Über die Grenzen … Straßenstein: Errichtung Strada provinciale 9

Am Ortseingang von Navazzo (Lombardei, Italien) befindet sich vor KM 8 ein Straßenstein aus Marmor, den ich seit vielen Jahren nicht näher besehen für einen Grabstein hielt. Erst mit meiner neuerdings intensiven Beschäftigung mit historischen Grenzmalen  und Distanzsteinen ist mir jetzt aufgefallen, dass dessen Inschrift an den Bau der 19 Kilometer langen SP9 (Strada provinciale) von Gargnano über Navazzo nach Valvestino und deren Beteiligte und Initiatoren erinnert.

Dieser Stein stammt aus dem Jahre  1934, wenn man die für römische Ziffern unübliche Datumsangabe am Ende der Inschrift entschlüsselt hat:

A.  XII.  E.F.
ausgeschrieben: “ANNO 12 ERA FASCISTA”,
oder auf deutsch:
“Im 12. Jahr der Era Fascista”,
d.h. im Jahr 1934.

(Erläuterung zur Jahreszählung der Era Fascista am Ende dieser Seite: HIER )

Die vollständige Inschrift und deren Übertragung ins Deutsche:

Diese Straße wurde in zwei Bauabschnitten angelegt. Der erste Abschnitt 1913 auf Initiative von Graf Giuseppe Feltrinelli mit der Strecke Gargnano, Sasso, Navazzo und Liano mit der Verbindung zur Villa Sostaga, früher Sommerresidenz und Jagdschloss seiner Familie. 1936 folgte die Verlängerung bis rauf nach Valvestino u.a. mit Unterstützung seines Sohnes Giacomo Feltrinelli (1891 – 1973).  Das große Engagement der Familie Feltrinelli ist hier nachvollziehbar wenn man in Betracht zieht, dass sie nicht nur passionierte Jäger auf diesem Plateau waren, sondern auch im großen Stil Holzhandel betrieben. Beides wurde durch den Bau dieser Straße erheblich erleichtert.

Wenn man sich das gesamte Straßenbauwerk vornimmt, dann erlebt man eine in schwierigstem Terrain erbaute sogar LKW-taugliche Strecke, die fast alles an Ingenieurskunst im Straßenbau der damaligen Zeit beeindruckend zeigt. Viadukte, Tunnel, Bogenbrücken mit großer Spannweite, Serpentinen, Geröllableiter, Entwässerung, Stationshäuschen, Rangier- Ausweichflächen u.v.a.m.

Die Kilometrierung der gesamten Strecke ist bis heute mit vielen der originalen Kilometersteine erhalten, ergänzt und modernisiert mit weiteren Zeichen. Abweichungen zwischen alten und neuen Kilometersteinen weisen darauf hin, dass die Strecke nachträglich an einigen Stellen leicht modifiziert wurde.

‘alt’ … und ‘neu’

Wer diese Strecke einmal “erfahren” hat (für Motorradfahrer und Biker übrigens der Geheimtipp und entsprechend frequentiert), dem drängt sich unweigerlich die Frage auf, weshalb seinerzeit in diesen kaum besiedelten Tälern ein derartiger Aufwand getrieben wurde.

Das Höhenprofil zeigt die Herausforderung des Streckenverlaufes. Auf den ersten 5 Kilometern überwindet die Straße über 500 Höhenmeter.

Allein bis KM 8 in Navazzo windet sie sich mit Hilfe von ca. 70 Kurven den Steilhang hinauf.

[Die ersten 7.7 KM von Gargnano bis Navazzo – die Via Angelo Feltrinelli – sind übrigens nach dem ältesten Sohn (1888-1917) von Giovanni Feltrinelli (1854-1930)  benannt, der mit 29 Jahren im Krieg fiel. Nicht zu verwechseln mit seinem gleichnamigen Großvater (1827-1900), dem in Gargnano vor der Chiesa di San Martino ein großes Denkmal gesetzt wurde.]

ÜBERSICHTSKARTE:

Viele Brückenbauwerke waren notwendig, bemerkenswert besonders eine der drei großen Brücken, die aufwändige Ponte Recchi mit einer Spannweite von 180 m:

Foto aus 4 km Entfernung oberhalb Briano aufgenommen

Neben den vorgenannten Gründen der Familie Feltrinelli gab es damals einen viel gewichtigeren Grund für diesen enormen Aufwand, nämlich einen militärischen …

Was man heute nicht mehr realisiert, das ist die damals strategisch wichtige Lage Navazzos, erbaut auf einem Plateau in der Nähe des Val Vestino, das von 1861 bis 1918 Grenzgebiet zwischen dem Königreich Italien und Österreich-Ungarn war.

Eine unscheinbare Gedenktafel am Brückenkopf der Terzo Ponte ( 3. Brücke) weist auf diese alte Grenze hin, die heute allerdings die Gemeindegrenze zwischen Valvestino und Gargnano ist.

1426 bis 1797 gehörte das Gebiet zur Republik Venedig und grenzte an die Fürstengrafschaft Tirol.

[Nb: Beeindruckend sind zu dem Thema die noch existierenden historischen Grenzsteine von 1752 im Vesta-Tal, in Valvestino und nicht weit von Vesta di Cima. Sie sind Relikte des Beschlusses der Regierung von Kaiserin Maria Teresa und der Serenissima im Jahre 1752, den langjährigen Grenzkonflikt zwischen dem habsburgischen Tirol und der Republik Venedig zu beenden und die Grenze genau festzulegen. Diese Steine wurden bis an die Adria gesetzt.]

Die Gegend war daher auch ein bevorzugter Durchgangsort für jene Armeen, die in das Val Vestino vordringen wollten. Im Mai 1513 zog der Anführer der Serenissima Scipione Ugoni von Gargnano herauf und plünderte das Magasa und Cadria.

Im Juli 1866, während des dritten Unabhängigkeitskrieges, übernahm der Weiler Navazzo eine bedeutende strategische Rolle als logistischer Stützpunkt für die Operationen des italienischen Freiwilligenkorps von Giuseppe Garibaldi, das an der Offensive gegen die im Val Vestino aktiven Österreicher beteiligt war.

Und wiederum im Mai 1915, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurde Navazzo von italienischer Infanterie auf dem Weg zur Besetzung von Val Vestino und Valle del Chiese durchquert.
Beispiele die verdeutlichen, welche strategische Bedeutung diese Gegend und damit der Straßenverlauf hatten, die zu einem dermaßen aufwändigen Straßenbau führten.

Knapp 30 Jahre später erfolgte der Bau des Valvestino Staudamms (Staumauer 124m hoch / Scheitellänge 285 m / Stauvermögen: 52 Mio cbm). Was für eine Fügung (oder Vorsehung?), dass mit der bestehenden SP9 die Logistikstraßen für dieses enorme Bauprojekt bereits vorhanden waren!

Das Ende der Strecke signalisiert vor Valvestino eine große Statue mit der Büste des Ingenieurs Giuseppe Feltrinelli. Die Inschrift hält noch einen anderen Aspekt des Projektes fest – dass es “Wohlstand in das abgelegene Tal bringen möge …”.

 

Diese Seite ist nicht final, sondern gibt den Zwischenstand unserer Erkundung wider. Daher freuen wir uns über jeden weiteren Hinweis, Ergänzungen oder Korrekturen zu diesem Thema.

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Elaborazione dedicata alla Sig.ra Barbara Zinn, Navazzo el Maggio 2024

 

 


1*) Im faschistischen Italien (1922-43) wurde eine eigene Jahreszählung ab 1926 verpflichtend eingeführt, die der „Era Fascista“ (Faschistische Ära). Ziel war es, das „bürgerliche“ gregorianische Datum in der italienischen Öffentlichkeit zu ersetzen. Vorbild dieser Zeitrechnung war der republikanische Kalender der französischen Revolution von 1792.

Die Zählung begann nach dem Marsch auf Rom am Tag der Vereidigung von Mussolini zum Präsidenten des Ministerrats am 29. Oktober 1922 mit dem „Anno I“ (Jahr 1) der Era Fascista. Jedes darauffolgende Jahr der Era Fascista war ein Anno Fascista, abgekürzt A.F.

In Inschriften aus dieser Zeit sind daher die Datumsangaben wie folgt:

„A“ für “anno”, das Jahr | römische Ziffern für das Jahr der Ära | „E.F.” für „Era Fascista“

Mit dem Ende des Faschismus 1943 (Anno XXI) resp. 1945 (Anno XXIII) in der Italienischen Sozialrepublik von Salò verlor dieser Kalender seine Bedeutung.

 

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